30 Jahre Putsch in Moskau:Russland in einer Identitätskrise

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Boris Jelzin bei seiner berühmten "Panzerrede": Am 19. August 1991 ruft der damalige Präsident der Teilrepublik Russland in der UdSSR zum Widerstand gegen Putschisten auf. (Foto: Diane Lu Hovasse/dpa)

Was den versuchten Staatsstreich von 1991 betrifft, waren Wladimir Putins Gefühle wohl stets zwiespältig. Auch für die Mehrheit seiner Landsleute ist die Sache heute nicht so einfach.

Kommentar von Silke Bigalke, Moskau

August ist Urlaubszeit, das war auch vor 30 Jahren so, daher befand sich Wladimir Putin "was weiß ich, wo", als alles begann - so erzählte er es Jahre später. Als eine Gruppe reaktionärer Funktionäre am 19. August 1991 gegen Michail Gorbatschow putschte, um den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten, eilte der junge Putin jedoch zurück nach Sankt Petersburg. Für ihn war damals klar, auf welcher Seite er stand: Keinesfalls würde er sich den Putschisten anschließen, so stellte er es dar.

Sowohl für Putin als auch für die Mehrheit der Russen ist die Sache heute nicht so einfach. Die Verunsicherung darüber, wie sie jene Tage im August bewerten sollen, ist Symptom einer größeren Identitätskrise. Wie oft, wenn es in Russland um Geschichte geht, trauern viele Menschen um das, was sie verloren haben - die Sowjetunion. Und sehen dabei nicht, was gewonnen wurde. Zugegeben: Dieser Gewinn lässt sich auch immer schwieriger greifen, je mehr Rechte den Bürgern genommen werden.

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Vor 30 Jahren jedenfalls erschien die Lage für kurze Zeit klar. Die Putschisten krallten sich mit Militärgewalt am Kommunismus fest, das Volk wünschte sich Erneuerung. In Moskau stellten sich Zehntausende den Panzern entgegen und beendeten letztlich die Macht der KPdSU. Ein Befreiungsschlag? Eine Mehrheit sieht das heute anders. Noch etwa jeder Zehnte wertet diese Tage als Sieg einer "demokratischen Revolution". Mehr als 40 Prozent der Russen halten den Augustputsch laut Umfragen für ein trauriges Ereignis mit verheerenden Folgen. Neben enttäuschter Hoffnung spricht daraus ein diffuses Gefühl von Verlust. Zwei Drittel der Russen bedauern das Ende der Sowjetunion - nicht nur, weil sie seitdem keine Bürger dieses Riesenreiches mehr sind. Damals brach auch ein Gesellschaftsentwurf zusammen, an dessen Stelle keine echte Demokratie getreten ist, sondern eine Imitation davon.

Putins System war immer autoritär, doch heute hat es keinerlei Skrupel mehr

Das neue System sollte damals mehr Wohlstand bringen, und zwar schnell. Zunächst brachte es jedoch Chaos, Korruption und Armut. Mit den liberalen Reformen der Neunzigerjahre verbinden viele Russen heute nichts Gutes. Später rettete eher der hohe Ölpreis Russlands Wirtschaft als die neue Freiheit. Heute herrscht zwar deutlich größerer Wohlstand als zu Sowjetzeiten, Russland ist den westlichen Demokratien viel ähnlicher, als es die UdSSR war. Doch wenn die Menschen wählen müssen zwischen politischer Freiheit und materieller Sicherheit, wählen viele weiterhin Letzteres.

Der Kreml weiß das. Jahrelang bemühte er sich um den Anschein von demokratischer Legitimität. Putins System war immer autoritär, heute hat es keine Skrupel mehr, dies offen zu zeigen. Der Kreml eliminiert die unabhängige Opposition sowie die Meinungsfreiheit - auch mit dem Argument, die Russen vor Unheil zu schützen. Ohne Putin, so propagiert der Kreml, würde das Land erneut im Chaos versinken. Sein Stabilitätsversprechen ersetzt natürlich keine politische Idee. Ob dieses Versprechen den Bürgerinnen und Bürgern ausreicht, ist die große Frage der kommenden Jahre.

Was den Augustputsch betrifft, waren Putins Gefühle wohl stets zwiespältig. Es sei damals klar gewesen, dass die Putschisten das Land zerstören würden, sagte Putin im Jahr 2000. Aber die Aufgabe, die sie sich gestellt hatten - die Sowjetunion vor dem Zerfall zu retten -, fand er begrüßenswert.

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